Der Augenblick davor 3

 
Unter den ausländischen Besuchern Spaniens riefen die Stierkämpfe stets eine heftige, nie gleichgültige Reaktion hervor, die mal Bewunderung, mal völlige Ablehnung sein konnte, meist aber eine Mischung aus Faszination und Widerwillen war. Alle beeindruckte die feierliche Zeremonie und der malerische Rahmen einer vollen Arena, aber die meisten hielten den Rahmen für schöner als das Bild. Dem Märchendichter Hans Christian Andersen zum Beispiel, der seinen ersten "richtigen" Stierkampf 1862 in Málaga sah, wurde schon beim ersten von zwölf Stieren schlecht, und nach fünf toten Stieren und zehn toten Pferden verließ er vorzeitig die Arena; damals trugen die Pferde der Picadores noch keine Schutzdecke, die bekamen sie erst 1928. Doch er mußte zugeben, daß diese "blutige und grausame Volksbelustigung" etwas Erregendes und Fesselndes hatte und wie "ein szenischer Tanz" aufgeführt wurde. Kurt Tucholsky konstatiert in der ihm eigenen Art: "Eine Barbarei. Aber wenn sie morgen wieder ist: ich gehe wieder hin." Stumpfsinniger noch als barbarisch schien dem italienischen Philosophen und Historiker Benedetto Croce aus dem ehemals spanischen Königreich Neapel das Geschehen auf dem Sand zu sein: "Selbst wenn ich viele Jahre in Spanien lebte, ...ich würde nie ein Aficionado werden", notierte er 1889 in sein Tagebuch. Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Théophile Gautier dagegen hielt den Stierkampf ähnlich wie Dumas für "eines der schönsten Schauspiele, die der Mensch sich vorstellen kann", und bekannte, daß ihn eine der stärksten Empfindungen seines Lebens überkam, kurz bevor der erste Stier in die Arena stürmte, eine Fanfare erklang, zwölftausend Augenpaare sich auf das Tor richteten und Stille herrschte im Rund. Und am Schluß der Augenblick der Wahrheit, der Moment vor dem Todesstoß mit dem Degen, dieses explosive Gefühlsgemisch aus rasender Gespanntheit und Beklemmung: "eine Situation, die alle Dramen Shakespeares aufwiegt".

Dies ist wohl der Kern und der Hauptgrund dafür, daß Stierkämpfe und Stierspiele trotz aller Anfeindungen überlebt haben und populär geblieben sind, auch von Nicht-Spaniern immer wieder durch deren Präsenz sanktioniert werden: Sie vermögen die heftigsten Gefühlsbewegungen auszulösen. Nicht etwa eine an orientalischen Fatalismus grenzende Gleichgültigkeit der Spanier gegen Schmerz, Blut und Tod, nicht ihre geradezu von der afrikanischen Sonne entbrannte Leidenschaft und ihr Blutdurst - so Richard Ford - lassen den Stierkampf für sie zu einem verfeinerten, ästhetischen Vergnügen werden wie es für andere die italienische Oper ist. Nicht eine angeborene iberische Grausamkeit, fanatische Zerstörungswut und obskure Todesobsession sind die Triebfedern des Stierkampfs, wie Hemingway und in seiner Nachfolge ein ganze Riege Angelsachsen, auch Gerald Brenan, meinten. Die Engländer töten aus Sport, die Franzosen für den Topf, die Spanier aus Lust, spitzte Hemingway zu, aus purer, zielloser Lust (die Deutschen aus Pflicht?). "Spanien ist in den Tod verliebt", schrieb noch Nooteboom, noch 1992. Nein, nicht der Tod des Stiers ist entscheidend und nicht das Töten, sondern der Augenblick davor. Nicht das Aufspießen des Mozo ist beim Encierro das Ziel, vielmehr daß er so dicht und so lange wie möglich vor den Hörnern läuft.

So paradox es klingen mag: Vielleicht suchen die Spanier die Gefahr, die Todesnähe aus Lebenslust. Hemingway traf es schon besser, wenn er meinte, die Anziehungskraft des Stierkampfs beruhe wesentlich darauf, daß der Stierkämpfer bei einem großen Kampf das Gefühl der Unsterblichkeit bekommen und vermitteln könne, daß er sich und das Publikum in eine Ekstase zu versetzen vermöge, flüchtig, aber so tief wie in irgendeine religiöse Ekstase. Es muß nicht gleich die Unsterblichkeit sein, die man spüren möchte, wenn man zu den Stieren geht, es kann auch einfach das Gefühl sein, intensiv zu leben. Hemingway und Spanien paßten zusammen: Die ständige Gegenwart des Todes, das existentielle Lebensgefühl, daß der Tod das einzig Gewisse ist im Leben, nimmt den Kleinlichkeiten und Ärgernissen des Alltags die Bedeutung und hilft, das Leben zu genießen. Eine Reise zu den Fiestas Spaniens ist immer auch eine Überwindung des alltäglichen Todes, eine Wiedergeburt der Lebenslust.
 


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Dr. Andreas Krumbein, 2. Aug. 2001