Das Mädchen und der Stier

eine Erzählung nach Tom Lea 5

 
Hört zu, ich möchte Euch und allen anderen eine Geschichte erzählen, die ich in jungen Jahren in Sevilla erlebte:
    Ich war damals im Süden Spaniens auf Reisen und mein Weg führte mich durch Andalusien bis nach Sevilla, in die herrlichste und imposanteste aller Städte Andalusiens. In Sevilla lebte zu dieser Zeit ein Graf, der alte Conde de la Plata. Der Graf hatte eine Tochter. Sie ritt heißblütige Pferde, und sie liebte die Stiere. Eines Tages erfuhr sie, daß eine Kuh aus der Herde ihres Vaters gestorben war und ein Stierkalb zurückgelassen hatte, das vor Hunger zu sterben drohte.
    Die Tochter des alten De la Plata erbarmte sich des hilflosen Tieres und sagte: "Ich will mich seiner annehmen." Sie zog das Kalb fünf Monate mit der Flasche auf. Das Tier wuchs, wurde groß und stark, wurde dann entwöhnt und auf die Weide geschickt. Dort lebte es fortan mit den anderen Stierkälbern.
    Die Zeit verging und und bald sollten die Tientas veranstaltet werden, in denen die Stierkälber auf ihre Tapferkeit getestet werden. Hat ein Kalb in der Tienta seinen Kampfgeist bewiesen, wird es aufgewählt, um als erwachsener Stier beim Stierkampf in der Arena zu kämpfen und dort den Tod zu finden. Als die Zeit der Tientas gekommen war, wartete ein jeder mit Spannung darauf, wie dieses Kalb, das wie ein Schoßtier des Mädchens war, sich bewähren würde. Der kleine Stier war sehr mutig. Der alte Conde reihte ihn in die Sonderklasse ein und schickte ihn zu seinen besten Tieren. Der Stier war sehr wild, nur zu dem Mädchen nicht. Er kam gelaufen, wenn sie ihn beim Namen rief - Caribello hatte sie ihn genannt - und er fraß ihr aus der Hand.
    Als der Stier vier Jahre alt geworden war, bat das Mädchen ihren Vater, er möge doch Caribello verschonen. Der Vater hörte nicht auf sie und so wurde denn der Stier zum Stierkampfplatz
nach Sevilla gebracht.  
    Ganz nach Frauenart ging die Tochter des Conde mit, um ihren Stier zu retten. Freunden der Familie, die in Sevilla lebten, eröffnete sie, warum sie gekommen sei. So kam es Stammgästen des Stierkampfes zu Ohren und auch die Presse hörte davon. Die Zeitungen druckten die rührende Geschichte ab. Am Sonntag war die Arena gerammelt voll. Ich war auch dabei. Caribello war der fünfte Stier. Er tötete vier Pferde und zeigte außerordentlichen Mut.
    Jetzt sollte die Faena beginnen, während der der Stier nur den Matador als Gegner hat. Der Matador tritt dem Stier mit seinem Degen und einem roten Tuch, der Muleta, gegenüber. Als der Augenblick der Faena gekommen war und der Matador Antonio Montes mit Degen und Muleta herauskam, war Caribello noch stark und kampfbereit. Das Volk begann zu begreifen, daß es etwas Besonderes zu sehen gab. Es ging nicht mehr um das verwöhnte Lieblingstier der Tochter eines Grafen, sondern um einen Stier von edler Rasse. Er griff Montes immer und immer wieder von neuem an, es war ein Schauspiel, wie man es nur ganz selten sieht. Montes und Caribello tanzten um das scharlachrote Tuch und der Tod blickte auf sie herab. Als der Zeitpunkt für den Degenstoß herangekommen war, stand Caribello sichtlich ermüdet da.
    Und nun begann etwas Seltsames. Eine Stimme von den Tribünen rief nach dem Indulto, der Begnadigung, sie forderte Schonung, bat um das Leben dieses Stieres. Dann erbebte der ganze Ring von einem Schrei aus zwölftausend Kehlen und alle forderten den Indulto.
    Montes, der Matador, trat in die Mitte des Ringes, erhob den Kopf und Blickte nach der Loge des Präsidenten. Von dort wurde ihm das Zeichen gegeben. Die Menge raste. Langsam legte Montes erst die Muleta, dann den Degen auf den Sand, auf beides seinen Hut. So war, einem alten und doch nur selten geübten Brauch zufolge, der Indulto gewährt.
    Doch das war nicht das eigentliche Schauspiel.
    Als die Ochsen in die Arena kamen, um den Stier mit sich zu nehmen und aus dem Ring hinweg zu führen, schritt die Tochter des Conde de la Plata die Stufen hinab und trat in den Ring. Sie erhob ihre Hand, um Schweigen zu erbitten. Eine atemlose Stille legte sich über das Rund des Platzes. "Caribello", rief das Mädchen. Der Stier erhob sein Haupt. Langsam schritt das Mädchen auf den vom Kampf erhitzten und blutigen Stier zu und schlug im mit der Hand leicht, ganz leicht, zwischen die Augen. Die Ochsen waren nicht mehr nötig. Mit der Hand des Mädchens auf einem seiner Hörner ging Caribello aus dem Ring.  
 

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Dr. Andreas Krumbein, 19. April 2006