Das Leiden der Stiere

Im Januar 2007 wurde in der Ausgabe Nr. 656 der spanischsprachigen Wochenzeitschrift 6toros6, die sich dem Thema Stierkampf widmet, ein Artikel mit dem Titel 'Por qué el toro no sufre - Estudio científico sobre la medición del dolor y el estrés del toro bravo' (deutsch: 'Warum der Stier nicht leidet - Wissenschaftliche Studie zur Schmerz- und Stressmessung beim Kampfstier') des Autors José Luis Ramón veröffentlicht. Der Artikel gibt ein Interview wieder, das der Autor mit Universitätsprofessor Juan Carlos Illera del Portal, Direktor der Abteilung für Tierphysiologie der Fakultät für Tiermedizin der Universidad Complutense de Madrid, geführt hat. Illera del Portal ist kein spezieller Anhänger des Stierkampfes.

Am 22. Februar 2007 erschien in der französischen Tageszeitung Lib
ération ein Artikel von Jacques Durand, der sich auf die oben genannte Publikation bezieht. Der Artikel wurde von Dr. Hendrik Faßmann ins Deutsche übertragen:
   
 

*Wenn die Wissenschaft das Leiden der Stiere untersucht*
Ein Forscher betont die Rolle des Beta-Endorphins, eines Abwehrhormons des Tieres gegen den Schmerz

Von Jacques Durand


Um den Tierschützern etwas entgegenzusetzen, beriefen sich die Aficionados bisher auf Vermutungen, die niemals überprüft worden waren: nach dieser Auffassung ergeht es den Stieren wie den Boxern, die während ihres Kampfes die Schläge kaum verspüren, und sie leiden somit während der Corrida weniger
als anzunehmen. Diese Ansicht wurde nunmehr eindrucksvoll durch tiermedizinische Studien von Juan Carlos Illera de Portal, dem Direktor der Abteilung für Tierphysiologie der Universität Complutense Madrid und Forscher an der Universität von Californien wissenschaftlich bestätigt.

Juan Carlos Illera, der sich selbst nicht unbedingt als Aficionado versteht, hat eine Forschungsarbeit über die tierische Endokrinologie
1) des Kampfstieres geleitet. In einem Interview, das er im Januar der Zeitschrift 6toros6 gegeben hat, erklärt er, dass der Kampfstier während des Kampfes nur wenig Schmerzen empfindet. Der Grund: der Stier verfügt über eine endokrine Besonderheit, eine Art hormonalen Schutzschild, der ihn von anderen Tierarten unterscheidet. Seine hormonale Steuerung ist anders als die sonstiger Lebewesen, seine Nebenniere ist größer und er besitzt mehr Zellen, die Hormone produzieren, darunter das berühmte Beta-Endorphin, besser bekannt unter der Bezeichnung "Glückshormon". Das Beta-Endorphin hat eine schmerzstillende Wirkung bei Stress und Schmerzen. Im Gegensatz z.B. zum Schwein, das während des Transports zum Schlachthof an Stress sterben kann, produziert der Stier sieben mal mehr dieses Hormons als jedes andere Tier und zehn mal mehr als der Mensch. Wenn ihm also etwa die Pica Stress und Schmerz bereitet, schüttet er in Bruchteilen von Sekunden eine große Menge an Beta-Endorphin aus, das den Stress verschwinden lässt und den Schmerz sekundenschnell blockiert.

Die Studie von Juan Carlos Illera stützt sich auf die Untersuchung von 120 Novillos und 180 Toros, die entweder nach der Pica oder nach den Banderillas in den Corral zurückgeschickt wurden. Wenn ein Novillo dabei mehr Stress als ein ausgewachsener Toro empfindet, so ist dies darauf zurückzuführen, dass der erstere im Hinblick auf die Hormone noch nicht ausgereift und weniger trainiert ist, da die Züchter ihre Tiere regelmäßig zum Rennen veranlassen. Welches ist der stressigste Augenblick für den Stier? Der Transport und sein Herausstürzen aus dem Toril. Fünf Minuten später erreichen Stress und Schmerzen ihr niedrigstes Niveau. Eine Kuh, die man einfach aus dem Stall heraustreibt, ist stärker gestresst als ein Kampfstier während seines Kampfes.

Carlos Illera hat seine Analysen mittlerweile auf die Untersuchung der Muskeln des Stieres ausgedehnt, um die Zahl der Rezeptoren zu überprüfen, die angesichts von Schmerzen blockiert werden. Er ist überzeugt, dass der Stier überhaupt keine Schmerzen verspürt, und hofft, dies bald nachweisen zu können. So konnte er zeigen, dass die Stiere, die keine Pica oder Banderillas bekommen und die man nicht tötet, wie es etwa bei den Recortadores der Fall ist, doppelt so viel Stress ausgesetzt sind wie die Kampfstiere, und zwar gerade deshalb, weil sie weder Picas noch Banderillas bekommen und daher weniger Beta-Endorpghin freisetzen. Der Kampfstier verfügt demnach über einen besonderen Mechanismus, mit dem er seinen Schmerz kontrollieren kann. Eine Vergleichsstudie mit Stieren, die bei texanischen Rodeos verwendet werden, soll diese Studie bestätigen. Im übrigen hat die Arbeit auch die Bedeutung eines Hormons, des Serotonins, im Hinblick auf die Aggressivität des Stieres nachgewiesen.

Und was ist mit Stress und Schmerz des Toreros, der manchmal nach einem Hornstoß weiterkämpft als wenn nichts gewesen wäre? Professor Illera gibt sich überzeugt, dass die Toreros ebenfalls über einen "speziellen Mechanismus" verfügen. Er plant, eine Hormonstudie anhand von Speichelproben durchzuführen, die von den Toreros bei der Ankunft in den Arenen und in verschiedenen Kampfstadien genommen werden. Drei Toreros haben sich bereits bereit erklärt, an dem Projekt teilzunehmen.



1) Endokrinologie: wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den endokrinen Drüsen, ihren Produkten (Hormonen) und Krankheiten befasst
    endokrin: innere Sekretion aufweisend

 

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Dr. Andreas Krumbein, 25. März 2007